Die Wendung war nicht politisch motiviert, auch wenn das auf den ersten Blick so scheinen mag. Es war ein sehr persönlicher Prozess und es hat gedauert, bis sich die russische Matroschka entpuppte. Ich skizziere mal, in welchen Stufen das ablief:
Unterstufe: Die radikale Idee, dass der Kommunismus dem Kapitalismus in allem überlegen sei, hatte schon früh gegenüber der Realität des Westens für mich keinen Bestand. Der Vergleich zwischen Moskau und New York war nicht gerade schmeichelhaft für uns, auch wenn wir uns dem Westen moralisch hoch überlegen fühlten: Vietnam, Kuba, Chile, die Befreiungsbewegungen in den Kolonialstaaten – wir waren auf der „richtigen“ Seite, das motivierte mich trotz aller Zweifel.
Zweite Stufe: Als meine Tochter Chelsea auf die Welt kam, erfuhr ich zum ersten Mal bedingungslose Liebe. Es hat mich umgehauen. Ich stieg aus beim KGB und lebte als Privatmann den amerikanischen Traum: Frau und zwei Kinder, Haus mit Garten, zwei Autos. Über „gut“ und „böse“ habe ich nicht nachgedacht. Als ich im US-Fernsehen den Fall der Mauer miterlebte, habe ich einfach nur gestaunt. Sonderlich berührt hat es mich nicht, ich war ja jetzt Amerikaner. Deutschland war mir fremd geworden.
Dritte Stufe: Ich wurde dann doch neugierig, warum die DDR, die ich immer noch im Aufstieg sah, so sang und klanglos eingegangen ist. Je mehr ich im Internet darüber las, um so klarer wurde mir, was dieser Staat eine große Lüge war. Zu der Zeit habe ich noch die Schuld der DDR-Führung gegeben. Die waren eben keine echten Revolutionäre wie Lenin, nicht intelligent genug und zu machthungrig. Die haben die große Idee des Kommunismus total versaut!
Vierte Stufe: Als ich schließlich mehr über die Spitzeleien und Machenschaften der Stasi erfuhr, bröckelte mein ideologisches Fundament. Das waren ja sozusagen meine früheren Kollegen auf der anderen Seite des Gartenzauns. Aber dass sie sich auf ihrem eigenen Grundstück wie die Schweine im Schlamm gesuhlt haben, war immer noch nicht mein Problem. Unsere Branche der Spionage war ehrlich und nobel, glaubte ich (lacht).
Fünfte Stufe: Der Zusammenbruch. Mit meinen Recherchen zum KGB rollten die ersten Tränen. Ich hatte nicht nur mein Leben für eine mörderische Bande aufs Spiel gesetzt. Von den acht Bossen des KGB wurden zwischen 1923 und 1953 fünf nach ihrer Ablösung hingerichtet. Auch Mitarbeiter und Familien wurden erschossen. Grausam! Meine Illusionen fielen von mir ab wie der Eiserne Vorhang.
Oberstufe: Jetzt, wo ich glaube die menschliche Natur besser zu kennen, weiß ich, dass die romantische Idee des Kommunismus nicht lebbar ist. Tatsächlich hat es in der Geschichte der Menschheit nicht einen einzigen echten kommunistischen Staat gegeben – diese Staaten waren und sind alle Diktaturen. Heute glaube ich auch nicht mehr an den „guten Menschen“. Es gibt so viel Elend, Krieg und Verbrechen auf dieser Welt. Im letzten Jahrhundert hat der Mensch ungefähr 100 Millionen seiner Mitmenschen getötet. Wo sind sie denn alle versammelt, die Guten? Nirgendwo! Unter den Systemen und Staaten gibt es nur - überspitzt formuliert - äußerst Böse, sehr Böse, ziemlich Böse und etwas Böse. Der Westen schwankt so zwischen „ziemlich“ und „etwas“ und muss gut aufpassen, dass er nicht abrutscht.